Kapitel VI

Louises Gedenken

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Eine Tafel zur Erinnerung
  

Louises Dasein ging also an einem Wintertag des Jahres 1944 zu Ende, als sie kaum 16 Jahre alt war. Über die Jahre hin ist die Erinnerung an sie verloren gegangen, als sei in Auschwitz mit dem Menschen auch das Gedächtnis vernichtet worden. Nur einigen Menschen, darunter ihrer lieben Mademoiselle Malingrey und einer Handvoll Klassenkameradinnen bleibt sie im Gedächtnis gegenwärtig. Siebzig Jahre später ist die Erinnerung an sie auf einmal wieder lebendig geworden, in eben den Gemäuern ihres einstigen Gymnasiums. Dank der Entdeckung ihrer Briefe ist es Louise gelungen, jenseits ihres Todes eine andere Generation zu berühren. Die Lehrerin Khalida Hatchy hat mehrere Monate lang die Spuren des jungen Mädchens nachverfolgt und diese Begegnung außerhalb der Zeit hat einen tiefen Eindruck bei ihr hinterlassen. "Es ist wie eine Suche nach der Wahrheit. Ich habe es als Aufgabe, als Pflicht empfunden, nach weiteren Informationen zu suchen. Was ist ihr widerfahren? Was ist an jenem Tag geschehen? Ich habe versucht, die Schattenzonen aufzuhellen", schließt sie. Louise hat sie auch zu anderen geführt. Die Lehrerin von Jean-de-La-Fontaine hat nämlich festgestellt, dass auch andere Schülerinnen dieses Gymnasiums deportiert worden sind: "Sie hat uns durch ihre Briefe auch auf andere Schicksale aufmerksam gemacht. Das ist sehr aufregend." Im Pariser Archiv befindet sich eine Notiz über "die Verluste" des Gymnasiums, die bei der Befreiung von der Schulleiterin verfasst wurde. Darin hat Khalida Hatchy zunächst zwei Namen gefunden: Lucie, Louises Schwester, die auch in La-Fontaine zur Schule ging, und Hélène Poulik, eine Schülerin der 8. Klasse, die im Juli 1942 mit ihrer Mutter verhaftet und ebenfalls in Auschwitz ermordet wurde. Ein Bericht zum 50jährigen Jubiläum des Gymnasiums spricht auch noch von der dreizehnjährigen Anna Janowski, die seine Verfasserin, eine Literaturlehrerin, entdeckt hat. Anna war eine Schülerin der 6. Klasse, "die nicht mehr zur Schule gekommen ist". Denn sie ist mit dem Konvoi Nr. 15 vom 5. August 1942 deportiert worden.


Anna Janowski, Schülerin des Gymnasiums Jean-de-La-Fontaine, ist am 5. August 1942 deportiert worden.
© Sarah Montard

Damit kein Name wieder in Vergessenheit gerät, hat die Dozentin eine Idee: Sie lässt die Schülerinnen und Schüler an dieser „Suche nach der Wahrheit“ teilnehmen. Mit zwei elften Klassen des Gymnasiums bildet sie Arbeitsgruppen. Gestützt auf die Hefte über schulische Auszeichnungen aus der Kriegszeit und auf einige Zivilstandsdokumente, die sie in einem alten Karton aufgestöbert haben, werden die Gymnasiastinnen zu Detektivinnen. Zwei von ihnen haben einen fünften Namen wiedergefunden: Berthe Bauman. Das junge Mädchen, das 1926 in Paris zur Welt kam, ging in die 9. Klasse des Jean-de-La-Fontaine. Am 28. August 1942 wurde sie von Drancy aus in die Vernichtungslager deportiert. "Zu Beginn unserer Nachforschungen wollten wir unbedingt jemanden finden, um zu zeigen, dass unsere Suche zu etwas geführt hat. Aber als wir dann fündig geworden sind, wurde uns elend zumute, denn es bedeutete ja, dass sie gelitten hat", erklären Colombe und Romane, die beiden Mädchen, die den Namen entdeckt haben. "Man denkt, das ist lange her, aber eigentlich ist es gar nicht so fern. Wir haben uns vorgestellt, dass die Schülerinnen unserer heutigen 9. Klasse deportiert werden könnten. Unsere jüngeren Geschwister." Die beiden Gymnasiastinnen im Alter von Louise, 16 Jahre, sind sichtlich bewegt. Am Ende des Schuljahres werden sie das konkrete Ergebnis ihrer Nachforschungen sehen: Eine Gedenktafel mit den Namen aller deportierten Schülerinnen wird angebracht. Jean-de-La-Fontaine ist eine der wenigen Pariser Schulen, die bisher keine Tafel hatten. Die Namen von Louise, Lucie, Hélène, Anna und Berthe stehen von nun an eingraviert in der Eingangshalle. Als Gymnasiastinnen haben sie ein paar beschützte, sorglose Monate verbracht, bevor sie in der Shoah ermordet worden sind.



Colombe und Romane haben im Archiv des Gymnasiums den Namen Berthe Bauman wiedergefunden, die 1942 deportiert worden ist.


Die Schenkung der Briefe
  

Die Aufgabe, die Khalida Hatchy und ich uns gestellt hatten, war noch nicht ganz abgeschlossen. Vor einem hatten wir noch Angst: Louises Briefe sollten nicht noch einmal unter einer Staubschicht in den Tiefen eines Schranks ins Vergessen sinken. Damit die Geschichte sich nicht wiederholt, beschließen wir in Einverständnis mit dem Gymnasium, sie der Shoah-Gedenkstätte in Paris zu schenken, und mit den Briefen auch das Klassenfoto und die Bibel, die das junge Mädchen bei Mademoiselle Malingrey hinterlassen hatte. Auch Christine Lerch ist bei der Übergabe der Dokumente anwesend, die als erste die Briefe der Schülerin entdeckt hatte, sowie einer ihrer Kollegen, Patrick Choukroun, Musiklehrer am Jean-de-La-Fontaine, der sie bei ihrem Vorgehen unterstützt hat. Christine Lerch ist ausgesprochen bewegt: "Als ich diese Briefe fand, war das ein richtiger Schock. Ich wollte sie nicht Leuten übergeben, die ihnen keine Bedeutung zugemessen hätten. Als ich in Rente ging, habe ich mich gefragt, wer sich denn darum kümmern könnte. Jetzt bin ich erleichtert, dass sie am richtigen Ort gelandet sind und dass so vieles über Louise herausgefunden werden konnte. Das Wichtige war, das Gedächtnis wieder wachzurufen." Die Archivleiterin der Shoah-Gedenkstätte, Karen Taïeb, ist es gewohnt, solcherlei Schenkungen von Familien zu erhalten. Aus einer Schule jedoch kommt so etwas zum ersten Mal. Für sie hat jede Schenkung einen besonderen Wert. "Aus jedem dieser Briefe spricht ein menschliches Dasein, nicht bloß ein Opfer. Persönlich finde ich, dass ein Brief mehr über jemanden sagt als ein Foto. Es ist eine direkte Verbindung zu diesem Menschen, der den Stift in der Hand gehalten und diese Worte auf das Papier geschrieben hat", meint sie. "Nicht alle Briefe sind inhaltlich interessant, aber oft ist es die einzige Lebensspur eines deportierten Menschen."

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Lehrerinnen und Lehrer vom Gymnasium Jean-de-La-Fontaine übergeben Karen Taïeb, Archivarin in der Shoah-Gedenkstätte, die Dokumente von Louise Pikovsky.

Beim Hinausgehen werfen wir einen letzten Blick auf die Gedenkwand des Mémorial de la Shoah, auf der die Namen der 76 000 Juden, darunter 11 000 Kinder, eingraviert stehen, die zwischen 1942 und 1944 aus Frankreich deportiert worden sind. Louises Name steht neben denen ihrer Eltern und ihrer Geschwister. Der Krieg hat ihren Wissensdurst und ein Leben ausgelöscht, das gewiss große Strahlkraft gehabt hätte. Doch nach Jahrzehnten des Schweigens ist die junge Gymnasiastin fortan mehr als ein Name. "Ihr Zeugnis ist jetzt für die jungen Schüler*innen von heute zugänglich, aber auch für die künftigen", betont Khalida Hatchy. "Es zeugt von Mut, Nicht-Aufgeben und vom Glauben an das Leben."


Die Namen der Familienmitglieder der Pikovskys auf der Gedenkwand des Mémorial de la Shoah in Paris