Louises Schulranzen lag nicht im Schrank des Gymnasiums. Hatte Mademoiselle Malingrey ihn aufbewahrt? Ihr Neffe, der einzige Erbe der Lehrerin, hat keine Spur von ihm. Andere Dokumente jedoch erlauben uns, mehr zu erfahren, vor allem die Preisverleihungshefte. Im Schuljahr 1940-1941 ist Louise in der 7. Klasse. Das Gymnasium ist zu der Zeit ein reines Mädchenlyzeum. Sie ist es, die den Exzellenzpreis bekommt. Die Jugendliche ist in den meisten Fächern die Beste: Französisch, Übersetzung aus dem Lateinischen und ins Lateinische, Geschichte, Erdkunde, Mathematik, Naturwissenschaften und Englisch. Im Jahr darauf, in der 8. Klasse, ist sie noch einmal die Klassenbeste und erhält ebenfalls den ersten Preis in Griechisch und im Vortragen von Gedichten.
Das Klassenbuch von 1942-1943 ist verschwunden, aber die Kopie eines Französisch-Aufsatzes ist geblieben. Darin soll die Jugendliche eine Frage beantworten, die sich auf den nun bereits drei Jahre dauernden Krieg bezieht: "Sie waren recht jung zur Zeit des Exode [von 1940, AdH] . Hätten Sie Ihr jetziges Alter und die Erlaubnis gehabt, nur ein einziges Buch mitzunehmen, welches hätten Sie gewählt?" "Ein solches Buch soll mich zerstreuen und mich alle Schrecken des Lebens vergessen lassen, und es soll mir neuen Mut verleihen. Es soll auch meinen Charakter bilden und vor allem muss ich es immer wieder lesen können, ohne seiner müde zu werden. Welches Buch allein wird mir dies alles geben? Ein Gebetbuch, in französischer Sprache, etwas anderes sehe ich nicht. (…) Wenn die Erde von entsetzlichen Gemetzeln gebeutelt wird und einem die Menschen großen Kummer bereiten, wo kann man denn Zuflucht nehmen, wenn nicht bei Gott?", antwortet das junge Mädchen philosophisch. "Ja, ein Buch mit übersetzten Gebeten würde ich mitnehmen, wenn diejenigen, die mich aus meinem Nest vertrieben, die Güte hätten, mich mein Lieblingsbuch mitnehmen zu lassen."
Dennoch wird Louise am Tag ihrer Verhaftung eine Bibel bei Mademoiselle Malingrey zurücklassen, die mit den Briefen wiedergefunden wurde. Auf der Innenseite eine einfache Widmung, datiert auf den 25. August 1943. Sie stammt aus dem ersten Buch der Makkabäer, einer in griechischer Sprache überlieferten jüdischen Schrift, die vom Widerstand der Juden gegen die Seleukidenherrschaft erzählt: "Wir haben Trost an den heiligen Schriften in unsern Händen." Warum hat sie die Bibel nicht mitgenommen? Wusste sie bereits, dass diejenigen, die sie „aus ihrem Nest vertrieben“, sie nie mehr lesen lassen würden?
Um Louise näher kennenzulernen, versuchen wir einige ihrer Schulkameradinnen wiederzufinden. Leider sind die Schülerinnenregister des Lyzeums aus den Kriegsjahren verschwunden. Nur die Hefte, in denen die verliehenen Preise verzeichnet sind, geben Aufschluss über ein paar Schülerinnen, allerdings unter ihrem Mädchennamen. Mithilfe von Webseiten zur Ahnenforschung, dem Telefonbuch und ein paar Klicks im Internet gelingt es uns, mit ein paar von ihnen Kontakt aufzunehmen. Die meist 90jährigen Damen am anderen Ende der Leitung können es gar nicht fassen. So beispielsweise Yvonne Ducroz. "Seit 60 Jahren hat mich niemand mehr bei diesem Namen genannt. Wie haben Sie mich denn gefunden?", ruft sie. 1941 war sie in der 8. Klasse. Sie erinnert sich nicht genau an Louise Pikovsky, die in der Klasse unter ihr war, aber sie wahrt eine ganz deutliche Erinnerung an die Kriegsjahre im Gymnasium: "Wir sind letztlich nur ein Jahr in La-Fontaine gewesen, weil die Deutschen das Gebäude beschlagnahmt haben, um darin eine Kaserne der Kriegsmarine einzurichten. Wir mussten nach Janson-de-Sailly umziehen." Die Broschüre zum 50jährigen Jubiläum des Gymnasiums bestätigt ihre Erzählung. Im Oktober 1940 hatten die deutschen Besatzer die Büros der Kriegsmarine in diesem brandneuen Bau von 1938 untergebracht. Die Schüler mussten bis 1945 in den Räumen eines anderen Gymnasiums des 16. Arrondissement, Janson-de-Sailly, unterrichtet werden.
Trotz der Restriktionen, die die Pariser treffen, geht der Alltag in diesen Jahren der Besatzung weiter. "Uns fehlte es an vielem. In der Pause wurde Zwieback verteilt, der mit Vitaminen angereichert war. Die Heizung lief auf Sparflamme. Im Winter froren wir, doch mit 14 ist man jung und freut sich des Lebens, auch wenn Trauriges geschieht." Yvonne versucht so gut es eben geht, ihr jugendliches Leben zu leben, aber in diesen stürmischen Zeiten bricht die Wirklichkeit bisweilen in den Alltag des Gymnasiums ein. "Ich erinnere mich insbesondere an den Namen von Fleurette Friedlander. Eines schönen Tages ward sie nicht mehr gesehen. Sie trug den Davidsstern. Sie war ein sehr kluges Mädchen und sie arbeitete gut. Da wir damals nicht wussten, was vor sich ging, hatten wir keine Ahnung, was mit ihr geschehen sein mochte", bekennt sie. Yvonne Ducroz weiß noch immer nicht, was aus ihr geworden ist. Mit ein paar Nachforschungen informiere ich sie, dass sie die Shoah in Paris versteckt überlebt hat und vor etwa zehn Jahren verstorben ist.
So wie Yvonne haben viele Schülerinnen ihre jüdischen Kameradinnen in Erinnerung behalten. Julie Mercouroff war 1942 Schülerin der 8. Klasse. Das Verschwinden einer ihrer Klassenkameradinnen hat sich ihr tief ins Gedächtnis eingeprägt. Sie erinnert sich nicht mehr an ihren Namen, aber das Gesicht sucht sie noch immer heim. "1942 kam sie eines Tages mit einem Davidsstern in die Schule. Das hat mich erschüttert. Sie hat das Schuljahr beendet, aber nach den Ferien ist sie nicht mehr wiedergekommen", erzählt sie. "Als mir irgendwann bewusster wurde, was geschah, habe ich mich stets gefragt, ob sie nicht bei einer Razzia verhaftet worden ist. Als Erwachsene habe ich versucht ihre Spur wiederzufinden, aber es ist mir nicht gelungen. Jetzt schäme ich mich, dass ich sie vergessen habe." Empört über diese Situation entschließen sich einige Schülerinnen zu handeln. Sylvie Merle d’Aubigné war damals in der 6. Klasse. Sie erinnert sich an eine Unterstützungsbekundung, die es in der Klasse gegeben hat: "Meine Mutter war in ihrem Herzen eine echte Widerstandskämpferin. Als die Juden den Davidsstern tragen mussten, brachte sie mich und meine Schulkameradinnen dazu, für uns ebenfalls Papiersterne zu basteln. Wir haben sie in der Schule an unsere Blusen geheftet. Die Direktorin kam und hielt uns eine Standpauke, aber es schlug keine größeren Wellen."
Der Name Louise Pikovsky sagt diesen Frauen nichts. Um eine von den Schülerinnen aus ihrer Klasse wiederzufinden, besitzen wir immerhin ein Foto des Schuljahres 1942-1943, auf dem das junge Mädchen zu sehen ist. Louise steht nicht weit von ihrer lieben Mademoiselle Malingrey entfernt, sie lächelt schüchtern, der Blick geht ein wenig ins Ungewisse. Auf der Rückseite des Abzugs haben etwa zwanzig Klassenkameradinnen von Louise aus der 9. Klasse unterzeichnet. Viele von ihnen sind verstorben. Die erste, die wir erreichen, heißt Liliane d’Espinose, sie ist 89 Jahre alt. "Aber ja, Louise Pikovsky! Selbstverständlich erinnere ich mich an sie, aber eines Tages ist sie verschwunden, vermutlich bei einer der Razzien. Ich habe nichts mehr von ihr gehört. Ich habe mich erkundigt, wo sie war, aber es hieß, man wüsste es nicht", erklärt die ehemalige Schülerin von La-Fontaine. Von uns erfährt sie das schreckliche Schicksal ihrer Klassenkameradin. "Es tut mir leid…", sagt sie nach einem langen Schweigen, als entschuldigte sie sich, es nicht früher gewusst zu haben. "Ich kannte sie nicht gut, auch wenn wir in derselben Klasse waren." Liliane d’Espinose bestätigt jedoch das Portrait, das wir inzwischen von Louise entworfen haben. "Sie gehörte immer zu den besten. Was man von mir nicht sagen kann, weit gefehlt. Ich war sehr mittelmäßig!", gesteht sie ein. "Louise war sehr ernsthaft und auch sehr freundlich. Sie war eine ausgezeichnete Schülerin. Sie sehen ja, ich habe ihren Namen nicht vergessen. Daran merken Sie, wie sie mich beeindruckt hat!"
Auch die Spur von Madeleine Rivère finden wir wieder, Schülerin der 9. Klasse. "Louise war meine Sitznachbarin und es ist ein sonderbares Gefühl, von ihr zu sprechen. Es hat mir ein wenig den Schlaf geraubt, seit Sie Kontakt mit mir aufgenommen haben", vertraut sie uns an. Sie weiß nicht genau, was vor mehr als 70 Jahren mit ihrer Schulkameradin geschehen ist: "Ich vermute, dass sie 1942 bei der Razzia des Vel d’Hiv, des Wintervelodroms, verhaftet wurde, denn sie ist nicht mehr in die Schule zurückgekommen. Wir haben sie nicht mehr wiedergesehen und niemand hat mehr etwas von ihr gehört." In Wirklichkeit ist Louise allerdings sehr wohl in die Schule zurückgekehrt: Erst 18 Monate später ist sie verhaftet worden. Als wir ihr berichten, dass Louise nach Auschwitz deportiert und ermordet wurde, verbirgt Madeleine Rivère nur mühsam ihre Betroffenheit, aber letztlich ist sie nicht überrascht: "Ich habe es nie gewusst, aber ich habe es vermutet. Diese Geschichte kehrt mir oft in Erinnerung zurück, vor allem wenn ich einen Film über die Shoah sehe." Louise hat in ihrem Geist eine unauslöschliche Spur hinterlassen. Die beiden Schülerinnen verstanden sich sehr gut. "Wir mochten uns und hatten uns angefreundet. In den Ferien haben wir uns bisweilen geschrieben. Ich habe die Briefe lange aufgehoben, aber eines Tages muss ich bei einem Umzug ausgemistet haben...", erzählt sie uns und entschuldigt sich, dass sie diese Dokumente fortgeworfen hat.
Wie Liliane d’Espinose erinnert sich auch Madeleine Rivère deutlich an Louises Qualitäten: "Sie war ein sehr zurückhaltender und liebenswerter Mensch. In allen Fächern war sie Klassenbeste und sie arbeitete viel." Trotz Krieg hat Louise weiterhin sehr ernst und eifrig gelernt. Sie erzählte wenig von sich und hat nie etwas von der Bedrohung durchscheinen lassen, die auf ihr und ihrer Familie lastete: "Eines Tages sahen wir sie mit dem Stern ankommen, aber das ist alles. Sie sprach nie von ihren Problemen. Wir lebten, als ob nichts sei. Ich erinnere mich bloß, dass Mademoiselle Malingrey ihr vorgeschlagen hatte, sie bei sich zu behalten, denn die Juden wurden stark überwacht und oft verhaftet. Sie hatte abgelehnt, denn sie wollte ihre Familie nicht verlassen." "Mademoiselle Malingrey war sehr katholisch", fährt sie fort. „Ich glaube, ihre Religiosität hat sie dazu gebracht, sich um Louise kümmern zu wollen, aber sie hat wohl auch gesehen, welche außergewöhnlichen Fähigkeiten Louise hatte." Als sie die Briefe ihrer einstigen Schulkameradin liest, kommt Madeleine Rivère aus dem Staunen nicht mehr heraus: "Das sind sehr schöne Briefe. Sie war sonderbar reif im Vergleich zu mir oder anderen im selben Alter." Schaudernd berührt die ehemalige Schülerin von La-Fontaine die Dokumente: "Ich bin erschüttert. Wir waren Freundinnen, wir waren jung und wir hatten die Hoffnung, uns weiterhin zu sehen. Das geht mir nicht aus dem Kopf. Ich denke immer wieder an sie. Immer."