Kapitel II

Eine große Verbundenheit zwischen Schülerin und Lehrerin

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Ein Briefwechsel über den Sommer hin
  

Alle wiedergefundenen Briefe sind an dieselbe Person adressiert: Mademoiselle Malingrey. Aus zwei Büchlein, in denen 1941 und 1942 verliehene Preise verzeichnet sind und die ebenfalls in dem Schrank vergraben lagen, erfahren wir, dass sie Lehrerin für Latein und Griechisch am Gymnasium Jean-de-La-Fontaine war. Die Schülerin und ihre Lehrerin haben einander über den Sommer 1942 hin geschrieben. Der erste Brief ist auf den 7. August datiert: "Liebe Mademoiselle, ich habe Ihren Brief und Ihr Paket bekommen und danke Ihnen weder für das eine noch für das andere. Aber darf ich sagen, dass die Bohnen köstlich waren? Und dass der Brief... Oh! Was ihn angeht, so sage ich nichts, denn ich würde die Schranken überschreiten, die Sie mir eingeräumt haben", schreibt Louise. Schreibend offenbart die junge Gymnasiastin ihre persönlichen Reflexionen und vor allem ihre Fragen. Auf den Krieg kommt sie nicht zu sprechen, doch zwischen den Zeilen lässt sich der Konflikt erahnen. In eben diesem August 1942, drei Wochen nach der Razzia des Velodrôme d’Hiver, der Pariser Radsporthalle, bei der mehr als 13 000 Juden in Paris und seinen Vororten verhaftet und dort eingepfercht worden sind, erklärt sie Mademoiselle Malingrey, dass auch ihr Vater zu den Festgenommenen gehörte: "Wir haben Nachrichten von Papa. Er hat Drancy nicht verlassen. (…) Wir können ihm ein Päckchen mit Kleidung schicken. Es war ein gehöriges Stück Arbeit, bei der Zusammenstellung zu helfen, aber mit welcher Freude habe ich es ja getan." Louise äußert ihre Ängste nicht offen, aus manchen Worten aber sprechen sie sehr wohl: "Ach! Mademoiselle, wenn Sie mir noch einmal von der Freude erzählen könnten. Ich bin sicher, dass wir das Glück erst zu schätzen wissen, nachdem wir gelitten haben, aber gibt es denn bisweilen Einhalt im Leiden. Allmählich zweifle ich daran. Alles Liebe".


Die Briefe, die Louise an Mademoiselle Malingrey schrieb.

Der Brief vom 1. September stimmt einen leichteren Ton an. Louise erzählt darin von einem Spaziergang mit ihrem Vater, der sie bis zum Haus ihrer Lehrerin brachte, in der Hoffnung, sie dort zu finden. Doch diese ist in die Ferien gefahren, ins Haus ihrer Familie in der Haute-Saône, im Osten Frankreichs: "Sie haben ein schönes Viertel, Mademoiselle. Mit Papa habe ich einen angenehmen Spaziergang von der Place de l’Étoile bis zu Ihnen gemacht. Dort wurde ich ganz schön enttäuscht." Louise geht hier nicht auf Einzelheiten ein, doch ist ihr Vater ganz offensichtlich aus Drancy befreit worden. Von dieser Gefangenschaft wird in den Briefen im Übrigen fast nicht mehr die Rede sein. Viel lieber möchte die Jugendliche ihren Erkenntnishunger mit ihrer Lehrerin teilen: "Ich wünschte, ich könnte lesen, lesen und nur aufhören, um über meine Lektüren nachzudenken." Louise langweilt sich während der Sommerferien und wartet ungeduldig darauf, dass der Unterricht wieder beginnt. Was die knapp Fünfzehnjährige alles beschäftigt, ist für eine Jugendliche ungewöhnlich. Sie fragt Mademoiselle Malingrey insbesondere, welche Bedeutung man der Religion zumessen soll. Sie ist jüdischer Konfession, äußert jedoch Zweifel am Glauben: "So vieles missfällt mir bei den gläubigen Leuten, die ihren Glauben praktizieren! Meine Großmutter beispielsweise würde in Ohnmacht fallen, wenn sie wüsste, dass wir samstags schreiben. Und all diese Praktiken, die zu anderen Zeiten erfunden wurden und jetzt überhaupt keine Existenzberechtigung mehr haben!", vertraut sie ihrer Lehrerin an. "All das hat mir so missfallen, dass ich lange Zeit gezögert habe. Aber Sie haben mich überzeugt… Ich glaube, dass Gott uns hilft, aber ich glaube nicht, dass er uns hört." Sucht Louise in der Religion nach Antworten, um besser zu verstehen, was zu dieser Zeit der Besatzung um sie herum vor sich geht? Spürt sie, welche Bedrohung auf ihrer Familie lastet? Ein paar Briefe später wird sie Worte über die fehlende Freiheit schreiben, die von heute aus gesehen wie eine Vorahnung klingen: "Ich denke, die Griechen hatten Recht zu meinen, das größte Leid sei dasjenige, das Licht der Sonne nicht mehr zu sehen. Oh ja! Den Geruch des Grases atmen, die Sonne in den Feldern sehen zu können und wenn diese fern sind, dann eben die Sonnenuntergänge in Paris sehen zu können, die Sterne zu bestaunen, das ist sehr wohl die allererste Freude. (…) Die Freude ist ja in uns. Wie groß das Maß unseres Leidens auch sein mag, wir können immer noch ein wenig Freude finden, wenn wir denken, dass unsere Aufgabe nie zu Ende ist. Ich begreife jetzt diesen lateinischen Text, den ich in der 7. Klasse übersetzt habe, und von dem ich nur noch dies in Erinnerung habe: Ein Mann hatte all sein Hab und Gut verloren, seine Töchter waren in die Sklaverei verschleppt worden und er sagte: ‘Man hat mir meinen Reichtum nicht genommen, denn mein Reichtum liegt in mir'."

Louise zeigt sich ausgesprochen reif, hier und da klingen allerdings durchaus mitunter die Sorgen einer Jugendlichen an. So erklärt sie, dass sie sich manchmal inmitten ihrer Schulkameradinnen im Jean-de-La-Fontaine Gymnasium allein und unverstanden fühlt: "In meinen drei Jahren auf dem Gymnasium habe ich nicht eine einzige Gefährtin gehabt, die ich eine Freundin nennen könnte. Vielleicht bin ich zu schwierig und zu egoistisch?" Der letzte der wiedergefundenen Briefe stammt vom 19. September 1942. Der Unterricht beginnt wieder. Die Lehrerin und ihre Schülerin sehen sich in der Schule und ihr Briefwechsel bricht ab.

Es bleibt noch eine letzte kleine Nachricht. Der Umschlag ist nicht frankiert. Nur "Januar 1944" ist mit Bleistift darauf gekritzelt. Die Schrift ist zittrig. "Wir sind alle verhaftet. Ich lasse die Bücher, die mir nicht gehören, bei Ihnen und auch einige Briefe, die ich gerne wiederfinden möchte, wenn ich eines Tages wiederkomme. Ich denke an Sie, an den Vater und an Mademoiselle Arnold, alles Liebe", unterschrieben Louise.



Mademoiselle Malingrey bereut
  

Françoise Szmerla vergleicht ihre Cousine zu Recht mit Anne Frank. In ihren Schriften ähneln sich die beiden jungen Mädchen. Beide sind ungeheuer lernbegierig. Beide stellen sich Fragen über ihren Glauben. Beide denken, dass sie keine echte Freundin haben. Beide werden deportiert und ermordet. Otto Frank wird der Welt später das Tagebuch seiner Tochter zu lesen geben. Die Briefe von Louise wiederum sind dank Mademoiselle Malingrey zu uns gelangt.

Zum 50. Jubiläum des Gymnasiums Jean-de-La-Fontaine hat die Lehrerin 1988 der Schule diese Dokumente übergeben. In einer Broschüre, die zur Gedenkfeier herausgegeben wurde, entdecken wir ein Erinnerungszeugnis von ihr. Als sie nach der Kriegszeit gefragt wird, kommt Mademoiselle Malingrey auf ihre Beziehung zu Louise zu sprechen. "Sie war von 1941 bis 1942 meine Schülerin in der 8. Klasse, und von 1942 bis 1943 in der 9. Klasse. Sie war blond und ihre großen blauen Augen strahlten wie Sterne. (…) Louise war eine sehr gute Schülerin, vor allem in Mathematik, worin sie ihren weniger begabten Mitschülerinnen zu Hilfe kam. In den Sommerferien 1942 haben wir einander oft geschrieben. Ich schickte ihr Lebensmittelpäckchen aus unserer Zone, der es besser ging als der besetzten Zone", erzählt sie. "Eines Morgens, ich weiß das Datum nicht mehr, sprach mich, als ich das Haus verließ, um zum Gymnasium zu gehen, meine Concierge an und übergab mir eine Schultasche mit Büchern darin. Sie war ihr gerade mit einer kurzen Nachricht überbracht worden. (…). Louise war am Tag davor zum Arbeiten bei mir gewesen. Es hatte Warnsignale gegeben und ich hatte ihr angeboten, zum Übernachten bei mir zu bleiben. Aber sie wollte heimgehen, um mit ihrer Familie zu sein … und in den Tod zu gehen."


Der Bericht, den Mademoiselle Malingrey für die Broschüre zum 50jährigen Jubiläum des Gymnasiums geschrieben hat.

Mademoiselle Malingrey, mit Vornamen Anne-Marie, starb 2004 im Alter von 98 Jahren. Vor ihrem Tod übergab sie der Pariser Shoah-Gedenkstätte ein Foto von Louise. Bei der Schenkung waren ihre ehemaligen Schülerinnen dabei. Colette Montavon-Schirmann war eine von ihnen. "Mademoiselle Malingrey war eine große alte Freundin. Wir waren eine kleine Gruppe von fünf Frauen, die sie bis in ihre letzten Tage begleitet haben. Wir liebten und bewunderten sie", erinnert sie sich bewegt. "Ich bin selbst Lehrerin für Latein und Griechisch gewesen. Das habe ich ihr zu verdanken, denn sie hat in mir die Freude daran geweckt und die Lust, sie mit anderen zu teilen." Anne-Marie Malingrey, die nie geheiratet hat und keine Kinder hatte, war mit einigen ihrer ehemaligen Schülerinnen eng befreundet. Colette Montavon erinnert sich an eine außergewöhnliche Persönlichkeit, deren Lehrmethoden für die damalige Zeit sehr modern waren: "Als Lehrerin war sie ihrer Zeit weit voraus. Sie hatte einen außergewöhnlichen Humor und war sehr lebendig, was bei ihren Kolleginnen keineswegs der Fall war." Nach dem Krieg erhält sie den angesehenen Status eines Professor emeritus an der Universität Charles-de-Gaulle in Lille. Die anerkannte Spezialistin für christliche griechische Literatur war laut ihrer ehemaligen Schülerin "vom Glauben durchglüht". Als leidenschaftliche Kennerin der Kirchenväter interessierte sich Anne-Marie Malingrey insbesondere für ihr Verhältnis zum Judentum. Colette Montavon ist daher nicht erstaunt, als sie erfährt, dass sie sich mit Louise über dieses Thema unterhielt, selbst wenn sie nicht derselben Religion angehörten. Sie weiß, wie eng sie einander verbunden waren, wenngleich die Lehrerin sich nur ein einziges Mal zum Schicksal der jungen Deportierten geäußert hat: "Sie sprach nicht davon, denn es war etwas ganz besonders Schmerzhaftes für sie. Sie war eine Frau, die über ihre Schmerzen und ihren Kummer sehr verschwiegen war, aber an jenem Tag hat sie uns Louises Schulranzen gezeigt." Die Erinnerung an Louises Verhaftung hat sie bis zu ihrem Tod nicht verlassen: "Es war das große Bedauern ihres Lebens. Sie warf sich vor, nicht nachdrücklicher darauf beharrt zu haben, dass Louise an jenem Abend zum Übernachten bei ihr blieb."


Anne-Marie Malingrey in ihren letzten Lebensjahren. © Colette Montavon