Kapitel IV

Die Verhaftung der Pikovskys

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Eine Familie ukrainischer Herkunft
  

Obwohl sie eine gute Schulfreundin von Louise war, weiß Madeleine Rivère nicht viel über die Familie Pikovsky. Ihre Klassenkameradin hat ihr nie wirklich von ihren Angehörigen erzählt. Wo lebte der Rest der Familie? Was machten die Eltern? Woher kamen sie? Auf einer Genealogie-Webseite entdecken wir, dass eine Frau namens Nicole Minot sich mit der Frage befasst hat. Sie ist eine entfernte Cousine von Louise, ihre Großmutter Hanna Pessia war die Schwester von Abraham Pikovsky. Seit einigen Jahren versucht sie, den Weg der Familie zu rekonstruieren. Ihre Nachforschungen beginnen in Osteuropa. "Sie kamen ursprünglich aus Rotmistriwka in der Ukraine. Das ist eine Stadt südlich von Kiew", erklärt uns die Frau, die sich leidenschaftlich für Ahnenforschung interessiert. "Mein Großvater, Mosche Fuchsmann, kam 1905 nach Frankreich, seine Frau ein Jahr später. Die Pogrome haben sie dazu gebracht, ihr Land zu verlassen." Zu jener Zeit werden die Juden in der Ukraine oft Zielscheibe von Gewalt. Die ersten antijüdischen Ausschreitungen beginnen nach der Ermordung des Zaren Alexander II. am 13. März 1881. Zwischen 1881 und 1884 werden in etlichen Städten und Dörfern Massaker begangen. Man macht die jüdische Gemeinschaft zum Sündenbock für die politische Instabilität im russischen Imperium. In einem solchen Kontext kommt Abraham am 17. Dezember 1896 in Nikolajew, dem heutigen Mykolajiw zur Welt, einer großen Stadt im Süden der Ukraine, 300 km von Rotmistriwka entfernt.

Als zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine zweite Welle von Pogromen aufkommt, beschließt die Familie Pikovsky zu fliehen. Mehrere Geschwister von Abraham sowie seine Eltern machen sich gen Westen auf. Laut der Polizeipräfektur von Paris und Informationen, die in der Fremdenkartei gefunden wurden, scheint Louises Vater "am 4. Oktober 1921 nach Frankreich eingereist zu sein, wo ihm eine Aufenthaltserlaubnis ausgestellt wurde". Mehrere Dokumente beweisen allerdings, dass Abraham bereits einige Jahre zuvor in der französischen Hauptstadt anwesend war. Auf der Sterbeurkunde seiner Mutter Hanna Abramowsky (oder Abramoff), die 1918 im Rathaus des 20. Arrondissements von Paris ausgestellt worden ist, wird er unter dem französisierten Vornamen Albert als Zeuge angeführt. Ein Jahr danach, 1919, entdecken wir wiederum seine Spur, diesmal auf einer Heiratsurkunde. Ehe er Louises Mutter heiratete, war er nämlich ein erstes Mal verheiratet. Mit 23 Jahren ist er kaufmännischer Angestellter und ehelicht, ebenfalls in Paris, eine gewisse Hélène Moch, eine zwanzigjährige Sekretärin. Doch diese stirbt ganz plötzlich 1923. Das Paar hatte keine Kinder. Zwei Jahre später tauscht der Witwer ein weiteres Mal die Ringe im Rathaus des 18. Arrondissements. Am 17. März 1925 heiratet er Barbe Brunette Kohn, eine in Paris geborene Bankangestellte, Tochter eines Diamantmaklers und Enkelin eines Großrabbiners von Colmar. Sie bekommen vier Kinder: Annette 1926, Louise 1927, Jean 1929 und Lucie 1932. Den Geburtsurkunden ist zu entnehmen, dass Abraham mehrmals den Beruf wechselt. Nachdem er kaufmännischer Angestellter gewesen ist, wird er Uhrmacher, geht aber bankrott. Dann arbeitet er als Taxifahrer für eine Firma in Courbevoie, eine Arbeit, die unter russischen Zuwanderern sehr verbreitet war.


Ein Auszug aus Louises Geburtsurkunde, der zusammen mit den Briefen im Gymnasium Jean-de-La-Fontaine wiedergefunden wurde. Dieses Dokument war für die Anmeldung in der Schule notwendig.

Das Paar lebt einige Jahre lang im Marais in Paris, ehe es zu Beginn der 30er Jahre in die Rue Georges-Sorel 53 in Boulogne-Billancourt und danach ein paar Hausnummern weiter, in die Nr. 50 in derselben Straße zieht, wie Abrahams Einschreibung in die Wählerlisten von 1939 zu entnehmen ist. An dieser Adresse wohnt die Familie, als der Krieg ausbricht. Auf den Listen der Volkszählung von 1946 finden wir einige ehemalige Nachbarn. Liliane Giura wohnte in der Nr. 49. Wie zahlreiche Bewohner des Viertels, in dem vor allem Arbeiter wohnen, arbeiteten ihre Eltern in den Renault-Werken in Boulogne-Billancourt. Sie ist Jahrgang 1927, war also genauso alt wie Louise Pikovsky. Dennoch sagt ihr der Name nichts. "Sie hätte eine Klassenkameradin sein können, aber ich habe keinerlei Erinnerung", entschuldigt sie sich. Marius Wellem wohnte in der Nr. 18. Er erinnert sich, dass in seinem Haus einige Soldaten lebten: "Sie hatten einen großen Scheinwerfer auf dem Dach aufgestellt. Ein starkes Licht, das nach den alliierten Flugzeugen suchte. Wir wussten im Voraus, wenn Alarm war, weil wir zuerst einen ungeheuren Motor dröhnen hörten." Von den Mietern der Nr. 50 ist nicht die geringste Spur eines Zeugnisses zu finden. Die meisten sind inzwischen verstorben und die heutigen Bewohner haben keinen Bezug zu dieser Vergangenheit. In der Eingangshalle begegnen wir dem Vorsitzenden der Hausverwaltung, der mit Erstaunen die Geschichte der Pikovskys vernimmt. Er hat davon nie gehört, obwohl bereits seine Großeltern damals unter dieser Adresse wohnten. Das Gebäude selbst ist so geblieben, wie Louise es gekannt hat. Der Eingang, das Treppenhaus, die Briefkästen haben sich quasi nicht verändert, doch nichts zeugt davon, dass sie einmal hier gewohnt hat.


Das Wohnhaus der Familie Pikovsky in der Rue Georges-Sorel 50, Boulogne-Billancourt.



Das Ende der glücklichen Tage
  

Der erste Akt des Dramas spielt sich im Sommer 1942 ab. Wie einem Brief Louises an Mademoiselle Malingrey zu entnehmen ist, wurde ihr Vater, Abraham, ein erstes Mal im Sammellager Drancy interniert und dann freigelassen. Weder seine Verhaftung noch seine Freilassung sind von der Polizeipräfektur von Paris festgehalten worden und weder im Nationalarchiv noch in der Shoah-Gedenkstätte ist irgendeine Spur davon zu finden. Wie ist das zu erklären? Der Historiker und Anwalt Serge Klarsfeld, bekannt für seinen entschlossenen Willen, gemeinsam mit seiner Frau Beate, die Naziverbrecher zu verfolgen, hat sein Leben der Anerkennung und Erforschung der Shoah gewidmet. Er ist bereit, uns aufzuklären. Gleich zu Beginn versichert er uns, dass es überhaupt nichts Überraschendes ist, keinerlei schriftliche Spur zu finden. "In den Monaten August und September 1942 kamen so viele Leute nach Drancy und es fuhren so viele Konvois von dort ab, dreimal wöchentlich, dass der Kommandant überlastet war. In diesem Zeitraum wurden keine individuellen Karteikarten erstellt, sondern das Lagersekretariat hat sie nachträglich auf der Grundlage der Deportationslisten angelegt. Daher fehlen darin zwangsläufig welche, namentlich von denen, die das Lager wieder verlassen haben", erläutert der Spezialist. Aber wie war Abraham überhaupt aus Drancy herausgekommen, so dass er zu seiner Familie zurückkehren konnte? "Er ist 1942 freigelassen worden, weil er die französische Staatsangehörigkeit hatte. Es war eine Periode, in der man noch keine Franzosen deportierte", antwortet er uns. Abraham hatte tatsächlich einige Jahre zuvor die Staatsangehörigkeit erworben, wie ein am 24. Januar 1937 im Journal officiel veröffentlichtes Dekret beweist. Als jedoch der Marschall Petain das Gesetz über die Revision der Einbürgerungen unterzeichnete, wurde sie ihm 1941 wieder aberkannt. In wenigen Monaten haben unter dem Vichy-Regime mehr als 15 000 Personen, darunter etwa 6 000 Juden, ihre Staatsangehörigkeit verloren.


Der Historiker und Anwalt Serge Klarsfeld ist selbst 1943 bei einer Razzia in Nizza der Gestapo entkommen. Sein Vater Arno Klarsfeld jedoch ist mit dem Konvoi Nr. 61 nach Auschwitz deportiert worden.

"Meines Erachtens wird sich die Mutter auch an die Präfektur oder an den Lagerkommandanten von Drancy gewandt und gesagt haben, dass ihre gemeinsamen Kinder Franzosen sind. Vielleicht hat sich auch jemand von der UGIF eingeschaltet", präzisiert Serge Klarsfeld. Die Union der Juden in Frankreich, die UGIF (Union générale des israélites de France), war 1941 gegründet worden, um die Juden gegenüber Staat und Behörden zu vertreten. Diese Spur deckt sich mit einem der wenigen Dokumente, die wir in der Gedenkstätte der Shoah gefunden haben. In einem Brief vom 20. Juli 1942 wendet sich Barbe Brunette Pikovsky tatsächlich an die UGIF, nachdem ihr Mann „letzten Donnerstag“, also am 16. Juli, bei der Razzia des Wintervelodroms verhaftet worden ist. "Ich bin jetzt mit meinen vier Kindern allein", berichtet Louises Mutter der UGIF. "Wir haben alle die französische Staatsangehörigkeit. Eine Freundin hat mir eine kleine Arbeit verschafft, bei der ich 30 Francs pro Tag verdiene. Ich habe acht Jahre als Buchhaltungssekretärin in einer Bank gearbeitet. Vielleicht gäbe es die Möglichkeit, dass Sie mir selbst eine kleine Anstellung verschaffen?" In diesem Brief bittet Barbe die UGIF nicht darum, sich einzuschalten, um ihren Mann aus Drancy herauszuholen, aber vielleicht hat sie es später getan oder sich dazu an jemand anderen gewandt. "Ein solcher Fall ist keine Ausnahme. Es gab gar nicht so wenige Freilassungen, wenn interveniert wurde", meint Serge Klarsfeld.

Nach der Rückkehr des Vaters lebt die Familie Pikovsky zwei weitere Jahre in Boulogne-Billancourt. Das Leben nimmt seinen gewohnten Gang wieder auf. Louise geht noch immer zum Unterricht ins Gymnasium Jean-de-La-Fontaine. Von dieser Zeit erzählt ein Zeugnis, das wir von einer anderen entfernten Cousine bekommen, Claude Counord. Ihre Großmutter war eine Cousine von Abrahams Mutter, Hanna Abramoff. Sie erinnert sich sehr gut, wie sie als Jugendliche den Pikovskys begegnet ist. Als Beweis lässt sie uns ein auf August 1943 datiertes Foto zukommen, das in dem Pariser Vorort Joinville-le-Pont aufgenommen wurde. Dort steht sie direkt neben Louise, deren Schwester Annette und Barbe Brunette. Bewegt entdecken wir das Gesicht der Mutter der Familie. "Sie waren zu uns zu Besuch gekommen. Es waren sehr ruhige und zurückhaltende Leute. Abraham war bescheiden. Eine ganz schmale Gestalt, schmächtig, aber sehr sanft. Und die Töchter waren alle sehr freundlich und fröhlich." Über diesem schönen Sommertag scheint das Glück zu strahlen. Und doch sind zu dem Zeitpunkt bereits einige ihrer Angehörigen ermordet. Das ist etwa der Fall mit Claude Counords Onkel und Tante, den Trauzeugen von Abraham und Barbe Brunette: Maurice und Mina Vozlinski sind ein Jahr zuvor am 24. Juli 1942 nach Auschwitz deportiert worden. Insgesamt sind zehn Familienmitglieder der Abramoffs im Lager ermordet worden. Claude Counord ist wie durch ein Wunder entronnen: "Es ist uns gelungen, durch den Krieg zu kommen, und ich habe weiter am Unterricht teilgenommen. Ich habe nie einen Kurs verpasst. Ich habe sogar mein Abschlussdiplom mit dem Stern gemacht. Als ich die Gesangsprüfung bestanden hatte, hat mich der Lehrer dazu beglückwünscht, dass ich da war."


Louise (unten links) sitzt neben Claude Counord. Sie ist mit mehreren Familienmitgliedern auf dem Bild zu sehen, namentlich ihrer Schwester Annette (steht hinter Louise) und ihrer Mutter Barbe Brunette (links), im August 1943 in Joinville-le-Pont. © Claude Counord


Seit der Veröffentlichung der Webdokumentation ist uns ein weiteres Foto der Familie Pikovsky übermittelt worden, das im August 1943 in Joinville-le-Pont aufgenommen wurde. Darauf ist die gesamte Familie zu sehen: die Mutter Barbe Brunette, die drei Töchter Annette, Lucie, Louise, der Vater Abraham und der Sohn Jean. © Claude Counord

Den Pikovskys wird dieses Glück nicht beschieden sein. Im Winter sind die glücklichen Tage bereits fern. In ihren Memoiren beschreibt Louises Tante Marguerite Kohn das Unglück, das damals über die Familie hereinbricht. "In Paris erkrankte meine Schwiegermutter schwer. Sie erlag der Krankheit und starb im Kreise ihrer Pariser Kinder. Wir hielten die Trauertage ein, dann kehrten alle nach Hause zurück. Meine Schwägerin Barbe Brunette ging zu ihrem Mann und zu ihren vier Kindern zurück", erzählt sie in ihrer Biographie mit dem Titel Nous, les rescapés [Wir, die Überlebenden], die sie kurz vor ihrem Tod 1993 für ihre Kinder verfasste. "Am selben Tag stand die Miliz vor ihrer Tür. Die Polizisten nahmen den Vater mit und forderten die Mutter auf, die Kinder, sich selbst und ihre Sachen vorzubereiten: Man würde sie ein wenig später abholen kommen. Nachbarn, die ahnten, welches Los ihnen beschert war, boten meiner Schwägerin mit Nachdruck an, sie in dieser Zwischenzeit allesamt zu verstecken. Verlorene Liebesmüh! Brunette, die wahrscheinlich noch unter dem Eindruck der Trauer stand, weigerte sich, ihr Haus zu verlassen: ‘Wir wollen nicht getrennt werden!’ Und als die Polizisten der Miliz wiederkehrten, nahmen sie sie alle mit, vermutlich erstaunt, sie noch zu Hause anzutreffen. Das war 1944, nur wenige Monate vor der Befreiung! Ach, warum haben sie nicht durchgehalten?"

Marguerite Kohn beschreibt die Verhaftung der Familie Pikovsky sehr genau. Woher hat sie all die Einzelheiten? Ihre Töchter wissen es nicht und wir finden keinerlei Protokoll dieser Verhaftung. Ihr Bericht macht begreiflich, wie Louise bei Mademoiselle Malingrey eine letzte Nachricht hinterlassen konnte, um sie über ihren Aufbruch zu informieren und ihr einige Bücher zu hinterlassen. Die französischen Polizisten (die Barbe Brunettes Schwägerin mit der Miliz verwechselt) haben der Mutter der Familie ganz offensichtlich ein wenig Zeit gelassen, ehe sie die gesamte Familie abholte. Sie sind am 22. Januar 1944 verhaftet worden, wie ein paar Zeilen in einem Register der Polizeipräfektur von Paris anzeigen, wo die täglichen Einlieferungen ins Lager von Drancy verzeichnet sind. Die Namen aller sechs Mitglieder der Familie Pikovsky sind darin aufgelistet. In seinem Werk Le calendrier de la persécution des Juifs de France ["Der zeitliche Ablauf der Verfolgung der Juden Frankreichs"] erklärt Serge Klarsfeld, dass die Razzia der Nacht vom 21. zum 22. Januar aus der Pariser Region "mehr als 500 Opfer in Drancy einliefert". Aber warum sind die Pikovskys zu diesem Zeitpunkt verhaftet worden, während sie von den früheren Verhaftungswellen verschont geblieben waren? Wie der Anwalt erläutert, hatte sich die Lage geändert: "In Paris fällt es der Polizeipräfektur, die unter dem Druck der Deutschen steht, inzwischen schwer, ausländische Juden zu finden, da diese sich zunehmend verstecken. Es gibt immer weniger Leute, die man festnehmen kann. So greift sie auf diejenigen zu, die sich in Sicherheit wähnten. Nach den Staatenlosen werden die verhaftet, die die Staatsangehörigkeit erhalten hatten, dann diejenigen, die die Staatsangehörigkeit verloren hatten". Das ist bei Abraham Pikovsky der Fall. Eine Zeit lang hatte dieser Jude aus Nikolajew glauben können, in Sicherheit zu sein, weil seine Frau und seine Kinder die französische Staatsangehörigkeit besaßen. Ein Brief einer ehemaligen Schülerin Mademoiselle Malingreys, die Sozialarbeiterin geworden ist, bestätigt diese Hypothese. Als die Lehrerin sie um Hilfe bittet, um mit Louise in Drancy brieflich in Kontakt zu treten, antwortet diese ihr ohne Umschweife. "Wir sind von Drancy vollkommen abgeschnitten. Wir wissen nichts. Deportation ist sehr wahrscheinlich. Sie haben die sogenannten ausländischen Juden verhaftet, weil die jüngsten Einbürgerungen nicht mehr zählen. Sie erkennen die Staatsangehörigkeit ab und es genügt, dass ein Mitglied der Familie Ausländer ist, um die ganze Familie zu verhaften", schreibt diese Frau am 26. Januar 1944. Mademoiselle Malingrey bemüht sich, aber es ist bereits zu spät.


Der Brief von Colette, einer ehemaligen Schülerin von Mademoiselle Malingrey, in dem sie auf deren Sorgen nach Louises Verhaftung antwortet.