Kapitel I

In einem Schrank vergessene Briefe

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Von Paris nach Jerusalem
  

Ein besonderer Anlass bringt die beiden Schwestern zusammen, die in einer kleinen Wohnung eines jüdisch-orthodoxen Viertels von Jerusalem am Tisch sitzen. Danièle Schlammé und Françoise Szmerla erwarten diesen Augenblick, seit sie ein paar Tage zuvor einen überraschenden Anruf aus Frankreich erhalten haben: In einem Pariser Gymnasium sind Briefe einer ihrer Cousinen ersten Grades, Louise Pikovsky, wiedergefunden worden. Mit zitternden Händen entdecken sie diese über siebzig Jahre alten Dokumente. Danièle, die Ältere, ist vollkommen in diese paar Briefe aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs versunken. Sie liest schweigend und konzentriert. Die 80jährige Françoise, ihre drei Jahre jüngere Schwester, ist mitteilsamer und macht keinen Hehl aus ihrer Begeisterung. Sie ruckelt vor Ungeduld mit ihrem Stuhl: "Das ist unglaublich! Ich kann es kaum erwarten, all diese Briefe zu lesen. Das ist wirklich ergreifend." Wort für Wort, Satz für Satz entdecken die beiden Schwestern, wer ihre Cousine Louise war, die deportiert und umgebracht wurde. "Wir erinnern uns überhaupt nicht an sie. Unsere Mutter hat uns von ihr erzählt, aber das ist alles. Wir besitzen bloß ein Foto von diesem Teil unserer Familie. Hier sind die vier Pikovsky-Kinder: Louise, Annette, Lucie und Jean", erklärt Françoise, während sie uns auf dem vergilbten Abzug ihre Verwandten zeigt. "Als sie deportiert wurden, waren wir in Lyon", präzisiert die Frau, die vor etwa zehn Jahren nach Israel übergesiedelt ist.


Françoise Szmerla (links) und Danièle Schlammé mit ihrer Nichte Guila Pell (rechts).

Die beiden Schwestern, geborene Kohn, haben den Zweiten Weltkrieg überlebt. Ihr Vater Samuel Kohn ist im Februar 1943 bei einer von Klaus Barbie organisierten Razzia in Lyon von der Gestapo verhaftet und im November desselben Jahres nach Auschwitz deportiert worden. Von heute auf morgen ist ihre Mutter Marguerite plötzlich mit den Kindern allein. Es gelingt ihr, sie in Chambon-sur-Lignon im Zentralmassiv in Sicherheit zu bringen. Diese Gemeinde ist dafür berühmt, dass sie während des Krieges zahlreiche Juden beschützt hat. "Wir waren dort sehr glücklich. Die Leute waren fabelhaft zu uns. Es ist das einzige französische Dorf, das die Medaille der Gerechten unter den Völkern bekommen hat", betont Françoise, ohne je ihr Lächeln zu verlieren. Sie hegt keinen Groll, verspürt vielmehr einen unglaublichen Lebensdurst. "Unsere Mutter hat uns immer gesagt, wir sollen fröhlich bleiben!" ruft sie und stimmt sogleich ein schallendes Gelächter an. Dabei hat das Schicksal sie keineswegs verschont. Ihr Vater ist aus Auschwitz nie zurückgekehrt, ein großer Teil der Familie ist in der Shoah umgekommen. Sie zeigt ein Blatt Papier mit einer traurigen Aufstellung, die ihre Mutter verfasst hat. Es trägt den schlichten Titel "Im Namen meiner Verstorbenen". Vierzehn Namen, vierzehn Tote. Louises Name steht neben denen ihrer Eltern und ihrer Geschwister. Von ihren Angehörigen bleibt nur noch diese Totenliste. Nach 70 Jahren nun die Briefe von einer von ihnen zu entdecken, ist ein unerhofftes Geschenk. "Wir sind zutiefst ergriffen. In der Familie Kohn haben wir unser ‘Tagebuch der Anne Frank’!", ruft Françoise stolz.


Die vier Pikovsky-Kinder: Lucie, Jean, Annette und Louise.


Die entdeckung der briefe im gymnasium
  

Im Wohnzimmer des kleinen Appartements sitzt noch eine weitere Frau, die nur mit Mühe ihre Gefühle verbergen kann. Dank ihr sind Louises Briefe nach so vielen Jahren zu den Schwestern Kohn gelangt. Khalida Hatchy, Lehrerin und Dokumentarin am Gymnasium Jean-de-La-Fontaine, ist aus Paris angereist, um ihnen diese Dokumente auszuhändigen. "Ein Stück ihrer Geschichte ist damit zu ihnen zurückgekehrt", macht sie uns, noch ganz bewegt, deutlich.


Khalida Hatchy in Yad Vashem, der Shoah-Gedenkstätte in Jerusalem.

Und dabei wäre dieser Familienschatz um ein Haar völlig verschwunden. Denn eher durch Zufall waren die Briefe zu Khalida Hatchy gelangt. Im Februar 2016 sucht Christine Lerch, eine ihrer Kolleginnen, sie im Gymnasium auf. Sechs Jahre zuvor hatte die Mathematiklehrerin beim Umräumen von Unterrichtsmaterialien in einem Schrank Briefe, Hefte, sowie ein Klassenfoto und eine Bibel gefunden. All diese Dokumente scheinen einer gewissen Louise Pikovsky zu gehören. Die Lehrerin versucht, mehr über diese ehemalige Schülerin in Erfahrung zu bringen, doch vergebens. Dennoch liegt Christine Lerch viel daran, dass diese Relikte bewahrt werden, und sie vertraut sie daher, als sie in Rente geht, der Schulbibliothek des Gymnasiums an.

Deren Leiterin Khalida Hatchy ist von der Lektüre der Briefe zutiefst berührt und beschließt, die Suche wiederaufzunehmen: "Ich fand sie sehr bewegend. Ich habe Louises Geschichte auf die Schülerinnen übertragen, denen ich hier begegne. Es hätte jede in diesem Gymnasium sein können. Die Schulbibliothek befindet sich in dem Stockwerk, in dem damals ihre Turnstunde stattgefunden haben dürfte. Ich sagte mir, dass Louise in etlichen der Räume gewesen sein muss, in denen ich selbst in all diesen Jahren gearbeitet habe. Die Mauern haben sich ja nicht bewegt. Manchmal hat man den Eindruck, dass in ihnen die Geschichte atmet."


Das Gymnasium Jean-de-La-Fontaine im 16. Arrondissement von Paris, das 1938 eröffnet wurde.

Da sie um mein besonderes Interesse für Geschichte und speziell für die Geschichte des Zweiten Weltkrieges weiß, bittet Khalida Hatchy mich, ihr bei ihren Nachforschungen zur Seite zu stehen. Wir stellen uns eine Aufgabe: den Weg nachzuzeichnen, den diese Briefe und vor allem Louise Pikovskys Geschichte genommen haben. Die ersten Tage unserer Arbeit sind ergebnisreich. Auf der Internetseite der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem finden wir ein Gedenkblatt , das im Jahr 2000 von Jacques Kohn, dem Bruder von Françoise und Danièle, angelegt wurde. Er erklärt, dass sein Onkel, seine Tante und seine Cousins und Cousinen in der Shoah ermordet worden sind. Jacques Kohn ist mittlerweile verstorben, aber seine Adressangaben, die auf dem Gedenkblatt stehen, führen uns schließlich zu seinen Schwestern in Jerusalem. Die Mitglieder der Familie Pikovsky selbst sind auf der Webseite der Shoah-Gedenkstätte in Paris verzeichnet. Abraham, der Vater, Barbe Brunette, die Mutter, sowie die vier Kinder sind alle am selben Tag deportiert worden: am 3. Februar 1944. Alle sechs stehen auf der Liste des Konvois Nr. 67 aus Drancy. Es ist einer der letzten Transporte, die von dort nach Auschwitz fuhren. Sie tragen die Matrikelnummern 12194 bis 12199. Diese Namen, diese Zahlen, diese wenigen kalten Verwaltungsspuren der Deportation geben uns erste Hinweise. Es sind jedoch nicht die von den Deutschen hinterlassenen Akten, die die Erinnerung an Louise wieder zum Leben erwecken. Um zu entdecken, wer sie war, müssen wir uns zuerst in das vertiefen, was uns von ihr bleibt: ihre Briefe.