Bei ihrer Ankunft in Drancy wird für jedes Mitglied der Familie Pikovsky eine eigene Karteikarte angelegt. Als kostbare Zeugen der Geschichte der Deportation liegen diese Dokumente heute in der Pariser Shoah-Gedenkstätte geschützt in einer verschlossenen Vitrine. Aber im Nationalarchiv kann man Kopien auf Mikrofiche einsehen, und die Konservatorin Caroline Piketty zeigt sie uns bereitwillig. Auf Abrahams Karteikarte steht seine Nationalität, "russisch", sein Beruf, "Hilfsarbeiter", sowie seine Adresse in der Rue Georges-Sorel 50. Auf Louises Karte wird präzisiert, dass sie „Schülerin“ ist. Auch der Buchstabe B steht mit dickem blauem Stift auf jeder Karteikarte der Familie geschrieben. "Das bedeutet, dass sie selektiert waren, um schnellstmöglich deportiert zu werden", erklärt Caroline Piketty. Die Archivleiterin holt auch eine am 22. Januar 1944 ausgestellte Quittung hervor, auf der angegeben ist, dass Abraham bei seinem Lagereintritt den deutschen Behörden 885 Francs überlassen hat. Aber was ist aus dem Rest ihrer Sachen geworden? Als Antwort auf diese Frage führt uns Caroline Piketty ins Magazin des Nationalarchivs. Vor uns stapeln sich in einem Labyrinth von Regalen an die 6 000 Kartons. Darin sind die Dokumente aufbewahrt, die während des Krieges vom Generalkommissariat für Judenfragen erstellt wurden. "Das spricht Bände", sagt die Konservatorin trocken, die seit Jahren über den Raub jüdischer Güter arbeitet. "Man könnte meinen, man gewöhne sich irgendwann daran, wenn man in diesen Archiven umherläuft, aber glücklicherweise ist es nicht so." Auf diesen Regalen liegen Tausende von Akten über Ausplünderungen und Erklärungen über die Einfrierung von Bankkonten. Aber nichts zu den Pikovskys. "Der Familienvater war Taxifahrer. Er hatte also kein Unternehmen auf seinen Namen. Er war auch nicht der Eigentümer seiner Wohnung. Da ist es nicht leicht, etwas wiederzufinden“, meint Caroline Piketty. "Was ihr Hab und Gut betrifft, so sind nach ihrer Verhaftung Siegel an ihrer Wohnungstür angebracht worden. Danach sind die Deutschen mit einem klassischen Umzugswagen gekommen und haben alles eingeladen. Es kann auch sehr gut sein, dass sich die Concierge vor ihrer Ankunft ebenfalls bereits bedient hat. Da gab es etliche Varianten." Die Pikovskys waren nicht wohlhabend und besaßen keine Kunstwerke. Ihre bescheidenen Besitztümer sind somit in eines der deutschen Zwischendepots gelangt, wo die in den Wohnungen der Pariser Juden erbeuteten Sachen sortiert wurden, ehe sie, ohne irgendeine Spur zu hinterlassen, über den Rhein gebracht wurden.
In Drancy allerdings haben Louise und ihre Eltern mit Sicherheit andere Sorgen. Sie werden getrennt. Wie dem Eingangsregister der Polizeipräfektur zu entnehmen ist, werden Abraham und Jean mit anderen Männern im Raum 8.4 untergebracht. Barbe Brunette und ihre drei Töchter kommen in die Stube 10.3. Die erste Zahl ist die Nummer eines Treppenaufgangs. Wir finden ihn leicht auf dem Modell des Lagers, das in der Shoah-Gedenkstätte in Drancy, im Nordosten von Paris ausgestellt ist. Sie ist 2012 genau gegenüber von der ehemaligen Internierungsstätte eröffnet worden. Dieser Gebäudekomplex, Cité de la Muette genannt, war in den 30er Jahren für Familien gebaut worden, die in bescheidenen Verhältnissen leben. Im Juli 1940 wurde er von den Deutschen beschlagnahmt, die darin zunächst französische und englische Kriegsgefangene unterbrachten, ehe sie dann aus dem vierstöckigen Hufeisen ein Internierungslager machten. Zwischen 1941 und 1944 sind nahezu 80 000 Juden durch Drancy gekommen. Siebzig Jahre später hat die Cité de la Muette wieder ihre ursprüngliche Funktion angenommen. Genau dort, wo Louise und ihre Familie unter Zwang festgehalten und eingesperrt waren, befinden sich heute Sozialwohnungen. Mieter wohnen nun in den einstigen Räumen der Internierten. Als einzige Zeugen dieser Vergangenheit gedenken wenige Meter von den Gebäuden entfernt ein Denkmal und ein alter Eisenbahnwaggon der Deportierten. Die Züge selbst fuhren allerdings nicht von Drancy aus in die Todeslager. Am Vorabend eines Transports wurden die für die Deportation vorgesehenen Gefangenen in einem bestimmten Teil des Lagers zusammengepfercht. Am nächsten Tag stiegen sie frühmorgens nach einem erneuten Appell in Autobusse, die sie zum bloß zwei Kilometer entfernt gelegenen Bahnhof von Bobigny brachten. Die Pikovskys haben nicht lange gewartet, ehe sie aufgerufen wurden. Nachdem sie am 22. Januar in Drancy angekommen waren, wurden die sechs Familienmitglieder auf die Liste des Konvois Nr. 67 vom 3. Februar 1944 gesetzt.
An diesem 3. Februar 1944 wird Annette, Louises älteste Schwester, 18 Jahre alt. Ein trauriger Geburtstag, den sie inmitten von 1 213 anderen Menschen erlebt, darunter 184 Kinder, die alle für diesen Konvoi Nr. 67 vorgesehen sind. Unter ihnen ist auch Léa Schwartzmann. Sie stammt aus Tinqueux, in der Nähe von Reims, und ist einige Tage vorher mit ihren Eltern und elf Geschwistern verhaftet worden. Die 91jährige erinnert sich nicht an die Familie Pikovsky, aber sie hat nichts von diesem entsetzlichen Tag vergessen: "Es waren ungeheuer viele Menschen in diesem Konvoi…" Sie ist bereit, uns in ihrer Pariser Wohnung zu empfangen, um uns das Unvorstellbare zu erzählen. Bis zum Schluss haben ihre Familie und sie selbst geglaubt, nur einen bösen Traum zu erleben. "Wir haben uns nie wirklich gefürchtet, weil wir dachten, dass die Deutschen sich geirrt hätten und wir aus Drancy wieder herauskämen. Aber an dem Abend, als wir aufgerufen wurden, begriffen wir, dass es aus war für uns. Wir saßen in der Falle", erklärt die elegante Dame. Am nächsten Tag werden die Deportierten des Konvois Nr. 67 zum Bahnhof von Bobigny gebracht. "Es war sehr hart, in die Waggons zu steigen. Wir hörten die Rufe: ‘Schnell!‘ Wir mussten einen großen Teil unserer Kleidung zurücklassen. Sie knüppelten! Es war sehr aggressiv. Ich hatte Angst vor den großen Hunden, aber man musste einsteigen! Schon da verloren wir unsere Persönlichkeit. Es war schrecklich für ein junges Mädchen meines Alters", erinnert sich Léa Schwartzmann schmerzlich. "In den Waggons haben die SS-Leute uns eine kleine Rede gehalten und gesagt, wenn wir versuchen sollten abzuhauen, würde der gesamte Konvoi niedergeschossen werden." Aber das Härteste sollte noch kommen. Im Zug herrschten unmenschliche Bedingungen. Der Durst, der Hunger, die Gerüche und das Fehlen von Intimität. "Wenn wir auf die Toilette gehen mussten, hielt jemand eine Decke hoch, um uns zu verbergen. Diese Reise war sehr beschwerlich…", beschreibt sie schamhaft.
Die gesamte Familie Schwartzmann ist im selben Waggon. Léa erinnert sich vor allem an ein sehr bedrückendes Schweigen: "Meine Mutter sagte nichts zu uns, kein Wort. Wir fürchteten uns nicht, aber wir empfanden etwas wie eine Beklemmung. Wir schwebten in vollkommener Ungewissheit und wussten absolut nichts. Was würden sie mit uns machen? Wir stellten uns vor, dass wir getrennt würden." Nach drei Tagen und drei Nächten öffnen sich die Türen der Waggons endlich: "Das war etwas Entsetzliches, denn es gab bereits zwei oder drei Tote. Als wir ausstiegen, mussten wir schnell hinaus, ohne auf die Nachbarn zu achten." Obwohl Léa Schwartzmann bequem in ihrem sehr hübschen Wohnzimmer sitzt, ist sie anderswo. In Auschwitz, in Polen, da, wo der Zug schließlich angehalten hat. Jede Minute ihrer Ankunft erlebt sie äußerst intensiv nach: "Sie haben uns mit einer solchen Brutalität herausgeholt. Da habe ich verstanden, wozu die SS-Leute fähig waren. Es waren Ungeheuer." Schon sieht sie im Gedränge ihren Vater nicht mehr. Ihre Mutter hat gerade noch die Zeit, ihr ein "bis heute Abend" zuzuraunen. Léa wird selektiert, um mit ihrer Schwester Suzanne in die rechte Reihe zu gehen, während der Rest der Familie nach links geschickt wird: "Wir sahen Lastwagen ankommen. Sie haben die Kranken und die Kinder mitgenommen. Meine Schwester und ich haben uns gesagt, dass sie wohl doch nicht so böse seien. Sie sehen, bis zu welchem Punkt das durchorganisiert war!" Léa und Suzanne werden ins Frauenlager von Birkenau gebracht, wo man sie sofort rasiert und tätowiert. Einige Stunden später trifft die Wirklichkeit sie mit voller Wucht: "Junge Französinnen traten herbei und fragten uns, woher wir kämen. Sie lachten ganz gereizt, als wir sie fragten: ‘Wo sind unsere Eltern?’ Polnische Jüdinnen, die Französisch sprachen, haben uns geantwortet: ‘Versteht ihr denn nicht? Hier in Birkenau wird vergast!’ Meine Schwester und ich haben uns angeschaut. Es war das einzige Mal, dass wir geweint haben."
Léas Blick drückt ihre ganze Entschlossenheit aus. Keine Träne, kein Schauder. Sie hält sich aufrecht wie 1944 gegenüber der SS. Es ist dieser unglaubliche Geist des Widerstandes, der es ihr erlaubt hat, an der Seite ihrer Schwester durchzuhalten. "Aber auch Glück und der Glaube. Das Glück, nicht zur Vergasung ausgewählt worden zu sein. Der Glaube, den ich für meine Familie bewahrt habe. Das gibt Kraft und Mut", beharrt sie, während sie uns mit ihren durchdringenden blauen Augen anblickt. Ist Louise auch selektiert worden, um zu arbeiten? Im Lagerarchiv von Auschwitz gibt es keinerlei Hinweis darauf. Es fehlt jeder Beweis der Anwesenheit des jungen Mädchens abgesehen von der Liste des Konvois Nr. 67. Von den 1 214 Deportierten sind allein 166 Männer und 49 Frauen in einem Arbeitslager beschäftigt worden, 985 Menschen sind sofort vergast worden. Wie lässt sich erklären, dass die Gymnasiastin von Jean-de-La-Fontaine im Unterschied zu Léa Schwartzmann nicht ausgewählt wurde? Zwischen ihnen lagen nur zwei Jahre Unterschied. Sie hat nicht wirklich eine Antwort: "Warum ich? Meine 16jährige kleine Schwester war größer und stärker als ich und doch ist sie sofort vergast worden und ich nicht…". Hat Louise wie am Vorabend ihrer Verhaftung, als sie bei Mademoiselle Malingrey war, sich geweigert, von ihren Eltern getrennt zu werden? Auf diese Frage wird es keine Antwort geben. Offiziell ist sie laut einem Erlass vom 5. März 2015 am 8. Februar 1944 in Auschwitz ermordet worden. Diesem Datum liegt kein materieller Nachweis zugrunde. Der französische Staat hat ganz einfach fünf Tage zur Abfahrt des Konvois hinzugerechnet, um für die Verwaltung ein Todesdatum festzulegen. Léa Schwartzmann hat es geschafft, erst diese Vernichtungsmaschinerie und dann die Todesmärsche zu überleben, ehe sie schließlich im April 1945 mit ihrer Schwester aus dem Lager Ravensbrück befreit wurde. Mit Scheu schiebt sie ihren Ärmel zurück und zeigt uns ihre KZ-Nummer. Ihre Henker haben eine unauslöschliche Spur nicht nur auf ihrem Arm, sondern auch in ihrem Geist hinterlassen. "Es ist entsetzlich, mit der Erfahrung dessen vor Augen zu leben, was in Auschwitz geschehen ist. Das kann man nicht wegmachen. Es ist schwierig, anderen die Shoah begreiflich zu machen. Das übersteigt alles, es ist schlimmer als die Hölle", fasst sie zusammen. "Ich bin immer noch in Auschwitz und in Birkenau. Da kommt man nicht heraus."